Definition HEVE
Herausfordernde Verhaltensweisen (HEVE) werden gemäss Büschi und Calabrese (2022) folgendermassen definiert:
- Sie umfassen externalisierende (z.B. fremdverletzende, gemeinschaftsstörende oder sachbeschädigende) Verhaltensweisen und/oder internalisierende Verhaltensweisen (z.B. Antriebslosigkeit oder Rückzugstendenzen) und/oder selbstverletzende Verhaltensweisen.
- Sie können sich mittels spezifischer Anzeichen ankündigen oder (scheinbar) abrupt und plötzlich auftreten.
- Sie können gezielt ausgeübt und gerichtet, oder aber eher impulsiv, unkontrolliert und unberechenbar wirken und sich in Form von Kontrollverlust zeigen.
- Sie werden in einem spezifischen Kontext, als durch das Individuum oder die Umwelt, als sozial oder kulturell unerwünscht wahrgenommen.
Der Begriff Verhaltensauffälligkeit hat sich in der Behindertenarbeit etabliert, indem er Verhaltens- und Erlebensweisen kennzeichnen soll, die nach Theunissen (2021):
- Als altersunangemessen und normabweichend in einem lebensweltlichen System (z.B. Schule) oder auch mehreren Bereichen (Wohngruppe, Supermarkt) wahrgenommen und negativ bewertet werden
- Ein gestörtes Verhältnis zwischen der betreffenden Person und ihrer Umwelt (Mitmenschen, Dinge, Situationen) umfassen
- Aus der Perspektive der Person ein Problemlösungsmuster darstellen, welche zweckmässig und somit funktional sind
- Die Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten sowie die Lebensqualität der betreffenden Person vermindern
- Ein Risiko für die Gesundheit der betreffenden Person darstellen sowie ihre und die Sicherheit anderer Menschen durch Selbst- und Fremdaggression gefährden können
- Die Kommunikation und Interaktion, das Zusammenleben und Zusammenarbeiten mit der betreffenden Person erschweren
- In der Regel keinen organ-pathologischen Hintergrund aufweisen (Ausnahmen bilden Verhaltensphänotypen), sondern auf beeinträchtigte Kommunikationsformen (bspw. bei allgemeinen körperlichen Beschwerden oder Schmerzen) sowie auf pädagogische oder soziale Kontexte zurückführbar sind und daher von psychischen Störungen (Erkrankungen) abzugrenzen sind
- In Krisensituationen auftreten können, sich jedoch in der Regel über einen längeren Zeitraum herausgebildet und verfestigt haben, sodass sie regelmässig vorkommen
- Die wegen der hohen Belastung, Häufigkeit, Schwere oder Chronizität des Auftretens die Möglichkeiten, mit allgemeinen Erziehungsmaßnahmen zu handeln, einschränken (S. 49-50).
Buchempfehlungen


Podcast zum Umgang mit HEVE
Podcast – Folge zum Umgang mit Aggression & herausfordernden Verhaltensweisen. Michael erklärt, dass es die besondere Herausforderung seiner Arbeit ist, die Menschen gut zu verstehen, Signale zu deuten, wo Stimme und Artikulation nur schwer vorhanden ist. Neben besonderen Herausforderungen seiner Arbeit, die mit Eskalationen, aber auch vielen tollen Momenten versehen sind, geht es Michael darum, dafür zu sorgen, dass seine Schützlinge ein erfüllendes Leben haben. Der ausgebildete Sozialpädagoge berichtet von Unwägbarkeiten und Situationen, in welchen die Aggression Überhand nahm.
Definition Systemökologischer Ansatz
Bei diesem Ansatz werden Verhaltensweisen, unter anderem auch HEVE, unter den Bezugspunkten der Systemtheorie und der Sozioökologie versucht zu erklären (Theunissen, 2021, S. 64). Nach den Ausführungen von Theunissen (2021) sind Verhaltensauffälligkeiten aus systemökologischer Sicht nicht allein an der beeinträchtigten Person festzumachen, sondern viel mehr Ausdruck einer ungünstigen Wechselbeziehung zwischen Individuum und seiner Umwelt (S. 65). Die Problemlösungsversuche der verhaltensauffälligen Person werden von anderen als normabweichend und sozial unerwünscht beklagt (ebd.).
Daraus abgeleitet ist nicht die auffällige Person, sondern ihre Wechselbeziehung zur Umwelt gestört. Die systemökologische Sichtweise wendet sich also von jeglichen Erklärungsansätzen, in welchen HEVE als personeninhärent, individuumszentriert oder täterorientiert definiert werden, ab (Theunissen, 2021, S. 65).
Systemökologische Betrachtung von HEVE
Funktionale Problemsicht
Beim systemökologischen Ansatz haben HEVE stets einen subjektiven Sinn und Zweck (Theunissen, 2021, S. 65). Entscheidend ist es, dass man im Rahmen der Funktionalität sowohl die Ursachen und Auslöser als auch die aufrechterhaltenden Bedingungen von den HEVE eruiert (Zambrino et. al, 2023, S. 36). Eine herausfordernde Situation in der Wohngruppe lässt sich aus Sicht der Klient*innen als zweckmässige Reaktion auf eine für ihn*sie belastend erlebte Situation beschreiben (Theunissen, 2021, S. 65). HEVE wie Schreien, selbstverletzendes Verhalten oder das Werfen von Gegenständen können bei beeinträchtigter Kommunikationsfähigkeit beispielsweise Ausdrucks- oder Handlungsmöglichkeiten darstellen (ebd., S. 66). Da die betroffene Person sich verbal nicht ausdrücken kann und vermutlich wenig verstanden wird, zeigt sie die Verhaltensweisen, um sich auf diese (sozial unerwünschte) Weise auszudrücken (ebd.).
Ziele der Systemökologischen Herangehensweise
- Verstehender Zugang zu HEVE mit dem Wissen, dass verschiedene Faktoren eine Rolle spielen können.
- Erkenntnis, dass HEVE nicht eine personeninhärente Eigenschaft oder Ausdruck von einer Beeinträchtigung ist, sondern mitunter durch die Umwelt beeinflusst wird.
- Aufspüren von ungünstigen Wechselbeziehungen zwischen Klient*innen und der Umwelt, um eine angepasste Herangehensweise abzuleiten.
- Erschaffen von geeigneten Lebensräumen für Menschen mit einer Beeinträchtigung und Reflexion von HEVE vor dem Hintergrund, dass die HEVE einen Sinn und Zweck haben (Theunissen, 2017, S. 170; Theunissen, 2021, S. 69).
Bezugsliteratur
Büschi, E., Moramana, N., Calabrese, S. & Zambrino, N. (2022). Sichtweisen von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen und herausfordernden Verhaltensweisen – Schwierigkeiten und präventive Aspekte in Interaktion, Kommunikation und Beziehungsgestaltung. Soziale Passagen, 14(4), 423–440. https://doi.org/10.1007/s12592-022-00425-5
Theunissen, G., & Lingg, A. (2017). Psychische Störungen und geistige Behinderungen: Ein Lehrbuch und Kompendium für die Praxis (7. überarb. Aufl.). Lambertus Verlag.
Theunissen, G. (2021). Geistige Behinderung und Verhaltensauffälligkeiten: Basiswissen für Erziehung, Unterricht, – Förderung und Therapie (7. überarb. Aufl.). utb GmbH. https://doi.org/10.36198/9783838556383
Zambrino, N., Büschi, E., & Calabrese, S. (2023). Herausfordernde Verhaltensweisen von Erwachsenen mit kognitiven Beeinträchtigungen erfordern Anpassungen: Ergebnisse einer SNF-Studie. Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, 29 (09), 35–41. https://doi.org/10.57161/z2023-09-06