Definition Stress – psychologische Perspektive
Stress wird nach Lazarus und Folkman (1984) als ein besonderes Verhältnis zwischen einer Person und ihrer Umwelt definiert, das von der Person als Belastung oder Überforderung wahrgenommen wird. Zudem hat Stress einen direkten Einfluss auf das Wohlbefinden der Person. Das transaktionale Stressmodell hebt die wechselseitige Beziehung zwischen Individuum und Umwelt hervor und legt besonderen Wert auf die subjektive Wahrnehmung und die Bewertung von Stressoren. Ob ein und dieselbe Situation für mehrere Personen stressreich ist, wird also subjektiv bewertet (ebd.). Weiter ist zu erwähnen, dass Stress mit den im Oberthema „Selbstregulation“ genannten Gefühlen und Emotionen, wie Hilflosigkeit, Angst, Ärger, Wut oder Frustration eng verbunden ist. Nachfolgend eine Übersicht der am Stresserleben beteiligten Elemente:
Stressoren
Hier handelt es sich um alle äusseren Anforderungsbedingungen, in deren Folge es zur Auslösung einer Stressreaktion kommen kann (Kaluza, 2011, S. 13). Stressoren können in inhaltlich völlig verschiedenen Situationen, wie bei einer Naturkatastrophe oder bei der Arbeit auftauchen. In einer kurzen Auflistung sollen die Stressoren in physikalische-, körperliche-, soziale- und Leistungsstressoren strukturiert werden (ebd.):
Physikalische Stressoren
- Lärm
- Hitze
- Kälte
- Nässe
- Gestank
- Schlaf
Körperliche Stressoren
- Verletzungen
- Schmerz
- Hunger
- Behinderung
Soziale Stressoren
- Konkurrenz
- Isolation
- Zwischenmenschliche Konflikte
- Gewalt, Aggressionen & HEVE
- Trennung
- Verlust
- Sinkender Status
Leistungsstressoren
- Zeitdruck
- Quantitative und/oder qualitative Überforderung
- Prüfungen
- Mangel an Kontrolle
- Mass an Entwicklungsmöglichkeiten
Stressreaktion
Kaluza (2011) erläutert, dass die körperlichen und psychischen Antworten beziehungsweise Reaktionen auf die Belastung und Überforderung als Stressreaktion bezeichnet werden (S. 13). Die Reaktionen können auf der körperlichen, verhaltens- und auf der kognitiv-emotionalen Ebene ablaufen (ebd.):
Körperliche Ebene
Im Rahmen der Stressreaktion kommt es zu körperlichen Veränderungen, welche zu einer Aktivierung und Energiemobilisierung führen (Kaluza, 2011, S. 13). Menschen spüren das beispielsweise an einem schnellen Herzschlag, einer erhöhten Muskelspannung oder einer intensiven Atmung. Im kleinen Mass ist eine solche Stressreaktion vollkommen normal und hat kaum eine schädigende Wirkung. Bleibt diese Aktivierungsreaktion aber über eine längere Zeit, da Belastungen anhalten oder regelmässig wiederkehren, führt dies zu Ermüdungszuständen. Unter Umständen kann dies negative Folgen für die Gesundheit der betroffenen Person bedeuten (ebd.).
Verhaltensebene
Nach Kaluza (2011) umfassen Stressreaktionen auf der Verhaltensebene all das, was die betreffende Person in einer belastenden oder überfordernden Situation tut oder sagt (S. 14). Dazu gehört zum Beispiel hastiges und ungeduldiges Verhalten wie Essen hinunterschlingen, Pausen kürzen oder ganz auslassen, schnell und abgehakt sprechen oder andere Personen in ihren Ausführungen unterbrechen. Weiter gehören betäubende- oder bewältigende Verhaltensweisen wie mehr und unkontrolliertes Rauchen, Essen oder Alkohol sowie Kaffee trinken dazu. Die Einnahme von Schmerz-, Beruhigungs- oder Aufputschmittel gehören ebenfalls zu problematischen bewältigenden Verhaltensweisen (ebd.). In Bezug auf die Praxis in der Behindertenhilfe wäre ein unkoordiniertes Arbeitsverhalten, in dem man mehrere Dinge gleichzeitig tut, sich in die Arbeit stürzt und Übersicht sowie Ordnung verliert, ein typisches Muster. Ein konfliktreicher Umgang mit anderen Menschen, häufige Meinungsverschiedenheiten um Kleinigkeiten und Dünnhäutigkeit zählt zu weiteren Stressreaktionen auf der Verhaltenseben (ebd.).
Kognitiv-emotionale Ebene
Eine Stressreaktion auf der kognitiv-emotionalen Ebene ist für Aussenstehende nicht direkt sichtbar (Kaluza, 2011, S. 14). Es handelt sich um das „verdeckte“ Verhalten, also innerpsychische Vorgänge, wie Gedanken und Gefühle, die bei der betroffenen Person in einer belastenden Situation ausgelöst werden können. Hierzu gehören Reaktionen wie Gefühle der inneren Unruhe, Nervosität oder des Gehetztseins. Ebenso umfasst eine kognitiv-emotionale Stressreaktion Gefühle der Unzufriedenheit, Hilfslosigkeit und des Ärgers, sowie Angst zu versagen oder sich zu blamieren. Dies äussert sich durch kreisende, „grüblerische“ Gedanken oder im Spiegel durch eine Leere im Kopf. Viele Menschen äussern, dass sie bei Stressgeschehen Denkblockaden, Konzentrationsmängel oder einen Tunnelblick haben (ebd.).
Persönliche Stressverstärker
Persönliche Motive, Einstellungen und Bewertungen können individuelle Stressverstärker darstellen, die Stressreaktionen auslösen und verstärken (Kaluza, 2011, S. 14). Diese Aspekte stellen sozusagen den eigenen Anteil des Betroffenen am Stressgeschehen dar. Beispiele für individuelle Stressverstärker sind Entwicklungsbestreben, Perfektionismus und auch die Unfähigkeit, eigene Leistungsgrenzen zu akzeptieren. Eine stressverschärfende Wirkung hat ebenso eine Einzelkämpfer-Mentalität, die es nicht erlaubt, von anderen Unterstützung anzunehmen. Unseres Erachtens ist die Erkenntnis, dass man sich unter Druck setzt, um innere Leere, depressive Verstimmungen, Gefühle von Sinnlosigkeit und Einsamkeit nicht aufkommen zu lassen, höchst spannend. Stress wird also auch als Mittel genutzt, um vor sich selbst zu flüchten (ebd.). In der unterstehenden Abbildung wird der theoretische Abschnitt übersichtlich dargestellt:

Wechselwirkung von körperlichen-, verhaltens- und kognitiv-emotionalen Stressreaktionen
Oftmals wiegeln sich die oben genannten Stressreaktionen wechselseitig auf, so dass einer Verstärkung oder Verlängerung der Stressreaktion resultiert. Auch eine positive gegenseitige Beeinflussung im Sinne einer Verringerung der Stressreaktion ist möglich (Kaluza, 2011, S. 14). Durch den Abbau einer körperlichen Stressreaktion, beispielsweise durch Sport oder Entspannungstechniken, kann auch eine kognitiv-emotionale Beruhigung eingeleitet werden. Umgekehrt kann ein emotional entlastendes Gespräch mit einer vertrauten Person körperliche Erregung reduzieren (ebd.).
Transaktionales Stressmodel nach Lazarus
Lazarus (1984) geht davon aus, dass Personen den Stressoren in ihrer Umwelt nicht passiv ausgesetzt sind, sondern dass sie sich zu den gegebenen Anforderungen selbst aktiv in Beziehung setzen. Dabei spielen Prozesse in Form von bewertenden Wahrnehmungen, Gedanken und Schlussfolgerungen eine entscheidende Rolle. Es wird grundsätzlich in zwei Bewertungsvorgänge unterschieden, deren Ausgänge entscheidend dafür sind, zu welcher Stressreaktion es kommt (ebd.).

Primäre Bewertung
Die primäre Bewertung bezieht sich auf die Einschätzung des potentiellen Stressors entweder als irrelevant, angenehm-positiv oder stressbezogen (Kaluza, 2011, S. 34). Menschen bewerten solche Situationen vor dem Hintergrund persönlicher „Soll-Werte“. Es geht auch um individuell ausgeprägte Grundbedürfnisse, welche durch die eigene Biografie geformt wurde. Hierzu gehören Bedürfnisse nach Liebe, Intimität oder Zugehörigkeit aber auch das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung und Autonomie (ebd.). Doch was hat das nun konkret mit der Bewertung einer Stresssituation zu tun?
Wenn ein Mensch seine Soll-Werte durch bestimmte Situationen bedroht sieht, vermutet die Person eine Soll-Ist-Diskrepanz. Es liegt also eine stressbezogene primäre Bewertung vor (Kaluza, 2011, S. 34). Diese wird zusätzlich in Schaden/Verlust, Bedrohung und Herausforderung unterteilt.
Schaden/Verlust
Kaluza (2011) erläutert, dass sich Schaden oder Verlust auf die Wahrnehmung einer bereits eingetretenen Schädigung wie eine beeinträchtigende Verletzung, der Verlust nahestehender Personen oder die harsche Kritik Führungskraft bezieht (S. 34). Auch ständige, nicht kontrollierbare Störungen bei der Arbeit zählen dazu. Die Person vermutet eine Gefährdung der Einhaltung individueller Soll-Werte durch die Schädigung oder den Verlust und reagiert mit Gefühlen von Ärger, Wut, Trauer, Hilfslosigkeit oder Verzweiflung (ebd.).
Bedrohung
Mit Bedrohung ist eine Schädigung gemeint, welche noch nicht eingetreten ist, aber vermutet wird (Kaluza, 2011, S. 34). Die Person antizipiert also beispielsweise eine physische Verletzung (HEVE) oder das Nichterreichen von persönlichen Zielen. Eine vermutete Soll-Ist-Diskrepanz löst Angst aus. Die Bedrohungsbewertungen können mit den Bewertungen der Kategorie Schädigung/Verlust vermischt sein (ebd.).
Herausforderung
Im Gegensatz zu den vorherig genannten stressbezogenen Kategorien Schädigung/Verlust und Bedrohung unterscheidet sich die Herausforderung insofern, dass sich in der Bewertung die zwar schwer erreichbare, vielleicht risikoreiche aber mit positiven Folgen verbundene Bewältigung der Anforderung und deren Nutzen heraushebt (Kaluza, 2011, S. 34). Die Chance der erfolgreichen Bewältigung einer anspruchsvollen Situation liegt also im Fokus. Personen haben somit die Möglichkeit individuelle Kompetenzen zu bestätigen oder weiterzuentwickeln. Die Herausforderung ist tendenziell durch ein eher positives emotionales Befinden gekennzeichnet (ebd.).
Sekundäre Bewertung – Kann ich?
Bei der sekundären Bewertung werden die eigenen Kompetenzen im Umgang mit der jeweiligen Situation, wie auch aussenstehende Unterstützungsmöglichkeiten auf die bei der Bewältigung der Anforderung zurückgegriffen werden kann, bewertet (Kaluza, 2011, S. 34). Die sekundäre Bewertung bezieht sich also auf die eigenen Bewältigungsfähigkeiten. Eine Stressreaktion wird erst ausgelöst, wenn eine Person zur Einschätzung gelangt, dass die Situation möglicherweise nicht durch die eigenen, routinemässig zur Verfügung stehenden Regulationsmöglichkeiten aufgehoben werden kann (ebd.).
Bezugsliteratur
Kaluza, G. (2011). Stressbewältigung: Trainingsmanual zur psychologischen Gesundheitsförderung (2., überarb. Aufl.). Springer-Verlag. https://doi.org/10.1007/978-3-642-13720-4
Lazarus, R. S., & Folkman, S. (1984). Stress, Appraisal, and Coping. New York: Springer Publishing Company.